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gesamtkunstwerk stellt die frage nach schuld

Ab dem 9. November 2024 treibt Sweeney Todd_– der teuflische Barbier von der Fleet Street– sein Unwesen auf unserer Theaterbühne. Dramaturgin Julia Hoppe hat mit Regisseur und Ausstatter Sebastian Ellrich über sein Konzept und seine Gedanken zu Stephen Sondheims Klassiker gesprochen.

↗ Du bist bei sweeney todd für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich_– das ist eine ganz schöne Herausforderung bei einem Musical dieser Größenordnung. Was hat dich dazu bewogen, alles selbst zu machen?
Es interessiert mich, ein Gesamtwerk zu erarbeiten und dabei eine inhaltliche, ästhetische und formale Auseinandersetzung mit diesem Stoff in eine möglichst komplexe Konzeption zu übersetzen, so dass sich Szene, Bewegung, Sprache, Form und Farbe gegenseitig bedingen … Im Prozess der Entwicklung eines Kostümbildes beschäftige ich mich schon immer mit der Herkunft, der Struktur und der Form der Figuren, beim Bühnenbild suche ich immer nach einer übergeordneten Erzählform, die letztlich auch eine szenische Aufgabe stellt oder stellen kann, und in diesem Fall kann ich diese direkt, konkret und ungefiltert mit den Darsteller_innen erarbeiten und in Szenen übersetzen.

↗ In deiner Inszenierung wird es eine Figur geben, die als solche nicht im Stück steht, nämlich die der Kirche. Was hat es damit auf sich?
An diesem ganzen Abend werden das Verhältnis zwischen Täter- und Opferpositionen und vor allem die Übergänge dazwischen behandelt. Immer wieder stößt man dabei auf die Frage der Schuld. Fast jede Figur macht sich in irgendeiner Form schuldig, immer jedoch aus einer Opferposition heraus agierend. Die Institution Kirche, und damit meine ich nicht nur die christliche, hatte und hat noch immer einen großen Einfluss auf das Handeln der Menschen. So ist der Glaube bzw. die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft einer der häufigsten Kriegsgründe, auch die Erbsünde lastet auf jedem gläubigen Christen. Die Möglichkeiten des Wiedererlangens der Schuldlosigkeit, der Sündenvergebung und der Buße hingegen, welche vor allem die historische katholische Kirche anbot, können von sündhaften Taten freisprechen und damit durchaus Verwerfliches egalisieren. Die Kirche hat wohl ebenso viel Gutes wie Schlechtes in die Gesellschaft eingebracht, sowohl die Förderung und Ermöglichung aller Künste und der Architektur, aber eben auch Glaubenskriege, Ausstoß und Abgrenzung. Ich werde szenisch christliche Motive wie das letzte Abendmahl, die Pietà und den Sündenfall zitieren und »die Kirche« als eine stumme, aber nicht meinungslose Beobachterin durch diesen Abend wandern lassen.

↗ Auch dein Masken- und Kostümkonzept ist sicher nicht das, woran man als erstes denkt, wenn man sich mit der Geschichte von Sweeney Todd beschäftigt.
Ich möchte ein Gesellschaftsabbild zeichnen, ein Diorama, und dazu lege ich ein formales und farbliches Gesamtprinzip über alles. Ich begreife diesen Theaterabend als eine Art »Schneekugel«, in die die Zuschauenden Einblicke bekommen. In dieser Welt kommen grafische, leicht überzeichnete Figuren vor. Alles in Pastellblau, mit »schmierigen« Flächen in Blutrot. Das Pastellblau steht zeichenhaft für Gelassenheit und Frieden, die Schuldlosigkeit (also im Gegensatz zum christlichen Gedanken der »Ursünde«), und durch sattes Rot und Dunkelblau wird die tatsächliche Täter_innenschaft der einzelnen Figuren illustriert, dabei zitiere ich mit blutroten Händen oder Befl eckungen symbolhaft Verbrechen und Schuld. Wie in Shakespeares macbeth sind diese »Flecken der Schuld« also nicht nur haptisch vollzogene Taten, sondern Zeichen von »Schuldhaftigkeit«, die auch aus (Fehl-)Entscheidungen, Lügen, Verklärung, Missachtung oder Hass entstehen. 

sweeney todd spielt zu Beginn des 19._Jahrhunderts, uraufgeführt wurde das Werk von Stephen Sondheim im Jahr 1979. Was macht das Musical für die Zuschauenden von heute noch interessant?
Letztlich führt uns dieses Werk die extremen Gefälle von Reichtum und Armut, von Überlebenskampf, von Macht und Ohnmacht, von Missbrauch, von Verführung durch Genuss, das Handeln aus Eigennutz ohne Rücksicht auf Verluste, von schwelendem Hass durch widerfahrende Ungerechtigkeit und von Sehnsucht nach Einfachheit vor.
Ausschnitte einer Gesellschaft werden in Extremen gezeichnet, die Schwierigkeiten Einzelner, das Verlieren der Unschuld aufgrund der äußeren, vor allem auch wirtschaftlichen Umstände, die Machtlosigkeit gegenüber Höhergestellten, kapitalistische Prinzipien und deren negative Wirkungsweisen werden offenbart. Wie Brecht schon in der dreigroschenoper feststellt: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«. Und daran hat sich wohl seit der industriellen Revolution nicht viel verändert. Es scheint bei materieller Not nicht immer möglich, moralisch zu handeln … 

sweeney todd ist ein lohnenswerter Theaterabend, weil …
… ich versuche, mit meiner ersten Regie ein Gesamtkunstwerk zu erarbeiten, welches Theatermittel umfassend ausnutzt, um Impulse zu geben, sich mit Abstraktion und Ästhetisierung in menschliche Abgründe zu begeben, zum »Hinterfragen« inspiriert und einen Nachhall erzeugt.

Vita Sebastian Ellrich