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»er liebte die menschen nicht, er sah sie«

Ödön von Horváth veröffentlichte 1930 – »zwischen zwei Zeitaltern«, wie er selbst es formulierte – seinen ersten Roman der ewige spießer. Mit einer Bühnenversion des Romans eröffnet das Schauspielensemble die Spielzeit 24_25. Dramaturgin Cornelia Pook hat sich mit Michael Stacheder, Autor der Stückfassung und Regisseur des Theaterabends, zum Gespräch getroffen.

↗ Theater- und literaturaffine Menschen kennen Horváth vor allem durch seine Theaterstücke, zum Beispiel geschichten aus dem wienerwald oder kasimir und karoline. Als Prosatext ist jugend ohne gott weltberühmt, der ewige spießer eher unbekannt. Worum geht es in dem Roman?
Der Roman der ewige spießer stand am Ende einer mehrjährigen Beschäftigung mit dem Spießer-Mythos. Ödön von Horváth entwickelte für sich die sogenannte Spießer-Prosa, in der er die Spießer_innen seiner Zeit porträtierte; kleinere Texte und Kurzerzählungen, wie unter anderem das Märchen vom Fräulein Pollinger. Aus diversen Motiven und Vorarbeiten entstand 1927/28 schließlich der Roman sechsunddreißig stunden, der allerdings nicht zu Horváths Lebzeiten veröffentlicht wurde. Zwei Jahre später erschien der Roman der ewige spießer, der im Grunde aber über keine dramatische Handlung verfügt, sondern eher skizzenhaft das Leben von Spießer_innen in München erzählt. Vor den Ereignissen von Weltwirtschaftskrise und Inflation lässt Horváth das gesamte Panoptikum der Spießer_innen der Zeit auftreten und erzählt von ihren kleinen und großen Sehnsüchten, von Entbehrungen, Neid und Gier. Auch Anna Pollinger, die Näherin aus sechsunddreißig stunden, begibt sich in diesem Roman wieder auf die Suche nach ihrem persönlichen Glück und trifft dabei auf Alfons Kobler, einen Überlebenskünstler und Vorstadtstrizzi, der sich mit ergaunertem Geld eine Reise zur Weltausstellung nach Barcelona finanziert und später auf Josef Reithofer, der versucht selbstlos zu werden.

↗ Was war herausfordernd beim Erstellen der Bühnenfassung?
Ödön von Horváth hat seinen Roman, wie eben beschrieben, aus verschiedenen Vorarbeiten und eigenständigen Romanprojekten zusammengesetzt. Und das war schon die erste Herausforderung: aus dieser Fülle von Beschreibungen und Assoziationen einen roten Faden für unsere Fassung zu entdecken. Horváth, über den gesagt wurde, dass er »die Menschen nicht liebte, aber sah« erfand im Spießer für jede seiner auftretenden Figuren kurze Lebensbiografien oder Anekdoten, die uns nun in unserer Fassung als Materialien für die Rollen dienen oder in gekürzter Form im Spiel erzählt werden. Ich habe den horváthschen Text als Grundlage angenommen und ihn behutsam in eine Form gebracht, die den Schauspieler_innen erlaubt, die Ebene des Erzählens immer wieder zu verlassen, um auf der spielerischen Ebene dieses Szenenkaleidoskop zum Leben zu erwecken. Bereits bei unseren ersten Proben war zu erahnen, wie leicht die beiden Ebenen auf der Bühne ineinander übergehen und sich gegenseitig inspirieren.

der ewige spießer ist Abiturstoff in Niedersachsen. Was haben die Geschichten und Menschen darin mit uns heute zu tun?
Sehr viel. Allein der Umstand, dass die damalige Entwicklung der Zeit die Menschen ebenfalls herausforderte, weist Parallelen zum Heute auf. Auch wir – besonders junge Menschen, die sich naturgemäß stärker mit der Zukunft auseinandersetzen (oder auseinandersetzen sollten) als ältere – müssen uns Zeitenwenden und den Folgen von Krieg und gesellschaftlichen Umbrüchen stellen. In der ewige spießer ist eine große Angst spürbar. Eine Angst, mit der die Menschen nur bedingt umgehen können. In Krisenzeiten zeigt sich im Verhalten der Einzelnen oft ein erschreckender Egoismus. Auf eine immer komplexer werdende Welt wird versucht, mit einfachen Antworten zu reagieren. Auch wir konnten das in den letzten Jahren beobachten. Auch wir erleben in den letzten Jahren ein erneutes Erstarken rechtskonservativer und populistischer Ideologien. So werden wir in der ewige spießer auch mit unserer eigenen Zeit konfrontiert.

↗ Was interessiert / fasziniert dich an Horváth?
Ödön von Horváth begleitet mich schon sehr lange. Genau genommen wurde ich unter anderem mit ihm auf der Schauspielschule für den Beruf sozialisiert. Die wohl wichtigste Szenenanweisung, die die Regisseur_innen und Spieler_innen bei einem Horváth auf alle Fälle zu Beginn ihrer Arbeit überprüfen müssen, ist die Stille. Seitenweise findet man in den Stücken, ob es sich nun um kasimir und karoline, glaube liebe hoffnung oder der jüngste tag handelt, diese szenische Anweisung. Stille. Ich fand das damals schon äußerst spannend. Und wie anspruchsvoll ist es, diese Stille auf der Bühne mit Leben zu füllen! Faszinierend, welche Regungen, Gedanken und Handlungen in einer Stille lebendig und sichtbar werden können. Ja, ich kann durchaus sagen, dass Ödön von Horváth zu meinen Lebensdramatikern zählt. Und ich halte ihn bis heute für einen der wichtigsten Dramatiker für das deutschsprachige Theater. Allein, wie er seine handelnden Menschen geschrieben hat, ist eine große Freude für jede_n Schauspieler_in. Und im besten Falle auch für das Publikum, das mit Sicherheit sich selbst und seinen Zeitgenoss_innen wieder begegnet.