Kalender

»man kann diese party nicht verlassen, selbst, wenn man nicht hingeht«

Dramaturgin Maren Simoneit sprach mit Regisseurin Winnie Wilka über ihre Inszenierung von im menschen muss alles herrlich sein.

 

↗ »Man kann diese Party nicht verlassen, selbst, wenn man nicht hingeht« heißt es im Roman im menschen muss alles herrlich sein, der 2021 erschien. Er wurde geschrieben, nachdem die Krim 2014 völkerrechtswidrig durch Russland annektiert wurde und der Stellvertreter-Krieg territorial in der Ostukraine an der russischen Grenze begann, aber bevor Russland am 23.2.2022 in der Ukraine den Krieg ausweitete. Der Roman spielt in der Jetztzeit in Jena und Berlin. Dazwischen gibt es Rückblenden auf das Leben der Mütter vor 1990 in der ehemaligen Sowjetunion. Es ist kein Roman über den Krieg, aber natürlich greift jeder Krieg in das Leben von Menschen ein. Worum geht es in dem Stück?

Wir folgen Edi durch das Stück, sie ist in den 90ern in Jena aufgewachsen, angehende Journalistin, und - sie ist Ukrainerin, aber was bedeutet das? Damit begibt sie sich auf die Spuren ihrer Familie. Lena, ihre Mutter, verlässt mit der noch jungen Tochter Edi ihre ukrainische Heimat als die Sowjetunion zusammenbricht. In Jena fängt sie wie auch die Freundin Tatjana, ebenso aus der Ukraine und mit Kind, ein neues Leben an. 30_Jahre später, zu ihrem 50._Geburtstag, will Lena alle zusammenbringen. Auch der Vater macht sich aus dem Donbass auf den gefährlichen Weg durch das Kriegsgebiet nach Deutschland. 

Während Edi teils vergeblich versucht, Tatjana Fragen über die Vergangenheit zu stellen, hat Tatjanas Tochter Nina längst den Kontakt abgebrochen. Die Einsamkeit und die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen lassen sich nicht abschütteln und so schauen sie alle aneinander vorbei. Sasha Marianna Salzmann bringt uns in im menschen muss alles herrlich sein hinein in die Landkarte der Ukraine und zeichnet weibliche Lebenswege von den 70ern bis heute_– durch Zeiten des Umbruchs, der Korruption, des Mangels, wenn »Fleischwolfzeit« herrscht. Wir erleben, was passiert, wenn Töchter erst lernen müssen, ihren Müttern, mit Narben und Geheimnissen aus der Vergangenheit, Fragen zu stellen_– und zuzuhören.

↗ Welche Fragen haben dich dabei besonders interessiert?

Sehr viele tatsächlich. Wir haben es hier mit einem Generationenstück zu tun. Besonders fasziniert haben mich die starken und komplexen Frauenfiguren, denen ich auch genauso im Alltag begegne, die aber seltener auf der Bühne thematisiert werden. Ich bin selbst ein Kind der 90er-Jahre und wusste lange wenig über die Sowjetunion_– genauso wie z. B. über die DDR. Und ich denke, das betrifft viele in meiner Generation. Inhaltlich hat mich also beschäftigt: Wie prägen uns unsere Vorfahren konkret? Welche Spuren hinterlassen sie in uns? Auch gesellschaftlich ist diese Distanz spürbar_– das Fremdbleiben voreinander setzt sich in der Realität fort. Ich finde, wir können von Salzmann eine produktive Haltung des Zuhörens lernen: indem wir uns wirklich aufeinander einlassen und einander kennenlernen. Mir war es daher wichtig, mit Menschen aus der Ukraine zu sprechen, die aktuell wegen des russischen Angriffskriegs in Hildesheim leben. Was bewegt sie? Was vermissen sie? Was gibt ihnen Hoffnung? 

Inszenatorisch hat mich besonders gereizt, wie wir diese Geschichte gemeinschaftlich erzählen _– obwohl die Figuren sehr einsam sind und sich in gewisser Weise fremd bleiben. Wie holen wir sie näher zusammen? Wie werden sie Teil eines gemeinsamen Kosmos, einer Geschichte? Und wie kann beispielsweise ein Moment gemeinsamer Bewegung eine mögliche Antwort auf die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen sein?

im menschen muss alles herrlich sein ist ein lohnenswerter Theaterabend, weil …

... wir alle Kinder von Müttern und ihren Geschichten sind. Weil Salzmanns Text faszinierende Figuren zeigt – schlagfertig, poetisch und radikal menschlich – und das Ensemble sie wunderbar verkörpert. Weil die Inszenierung ein atmosphärisches Zusammenspiel aus Licht, Musik und Bewegung verspricht. Aber natürlich betrachten wir das Stück heute unweigerlich durch die Brille der aktuellen Geschehnisse – im nunmehr vierten Jahr des Krieges in der Ukraine. Diese brutale Aktualität ist tragischerweise unwiderruflich, aber vielleicht finden wir darüber in den Austausch. Und so viel sei verraten: Es wird einander zugehört, in der Annahme und Hoffnung, dass das Gespräch uns zu Menschen macht.

 

Foto: Tim Müller